Märchen vom Geist

In einem Reich jenseits dieser Zeitebene lebte ein Geist unter den Menschen. Viele bemerkten ihn nicht, aber einige spürten seine Anwesenheit. Sie waren über die ganze Erde verteilt und nicht zu übersehen. Sie versuchten intuitiv, dem Geist zu folgen, ohne ihn zu erkennen, waren sich nicht bewußt, daß sie alles Ungewöhnliche, was sie erlebten, diesem Geist zu verdanken hatten. Sie nahmen Drogen, um seine Wirkung zu verstärken und dachten oft, die Droge habe ursächlich die Wirkung hervorgebracht. Die meisten ließen sich unter seinem Einfluß treiben, wollten keine tiefere Wahrheit erfahren. Ihnen genügte der Augenblick und er war oft sehr befriedigend und paradiesisch. Sie sahen und fühlten Dinge, die nie zuvor ein Mensch dieser Erde erfahren hatte und dort vielleicht nie mehr ein Mensch erfahren wird. Gewöhnliche Dinge änderten plötzlich ihr Gesicht. Sie fühlten Zusammenhänge zwischen Ereignissen, die vorher garnichts gemein hatten. Vor ihrem inneren Auge entstanden Bilder von höchster Harmonie, Vielfalt, Reichtum und Leben. Die Bilder traten zur Wirklichkeit in Beziehung, begannen sich zu realisieren, mit dem gewöhnlichen Geschehen zu verschmelzen, es zu verändern. Etwas schien in den Menschen erwacht zu sein, das einen tieferen Sinn des Geschehens erkennbar werden ließ, etwas vom Charakter der Ewigkeit. Seltsame Kräfte führten die Menschen spontan zusammen, ließen sie unerwartet aufeinandertreffen. Der Geist versammelte sie um sich. Es geschah, daß sie dichter und dichter zusammenrückten unter seiner Wirkung. Eine Ahnung von Tiefe und Nähe kristallisierte sich, wurde greifbar und wirklich, eine ungekannte Glücklichkeit breitete sich aus. Vorstellungen von Beziehungen entstanden, Beziehungen ganz anderer Art, getragen von jenem Geist. Es wurde den Menschen klar, daß wirkliches, tragfähiges und beständiges Glück nur in der Sphäre jenes Geistes möglich ist. Die Beziehungen zueinander zeigten Veränderungen, neue Merkmale. Die Fixierung auf Einzelne und geschlechtsspezifisches Verhalten wurden abgebaut, vorher uninteressante Leute wurden wichtig, der Wert der Seele stieg an und das Alter wurde unwichtig. Jegliche Grenzen zwischen den Menschen verschwammen, wurden weich und durchsichtig. Man war bereit, sogar den Steinen Leben und Sinn zuzusprechen, alles hatte plötzlich Bedeutung. Die Leute erfuhren Dinge voneinander, ohne zu sprechen, waren sich auf seltsame Art einig, ohne genau zu wissen worin, es gab keine Differenzen mehr. Eine geheimnisvolle Verbindung untereinander, die nie abriß, hielt ein Lebensgefühl aufrecht. Sie gaben sich gegenseitig unbewußt Kraft und Zuwendung, auch ohne physisch beisammen zu sein. Ein "Untergrund", eine "Subkultur" mit völlig anderen Inhalten und neuen inneren Gesetzmäßigkeiten war entstanden. Alle irdischen Dinge bekamen einen überirdisch, kosmisch, religiösen Akzent, der auch in den entlegensten Winkel seinen Weg fand. Das Leben erschien in Zusammenhänge von gigantischer Größenordnung eingebettet. Das Gefühl weitete sich, verließ die Enge seiner kleinen Welt und erschloß eine neue Dimension und Intensität. Es begann zu fließen, wurde bereichert durch außerordentliche Milde, Reinheit und Klarheit. Es bekam fast gegenständlichen Charakter, ersetzte die auf äußere Dinge bezogenen Werte und verlagerte sie so in höhere Ebenen - der Geist der Menschen gewann seine Überlegenheit über die Materie zurück. Die vom Geist beeinflußten Menschen begannen, sich gegen die herrschende Ordnung aufzulehnen, die sie als Mißordnung erkannten. Sie wollten Frieden, das Ende jeder Gewalt. Sie waren auch offen für "die Anderen", bereit und fähig, ihnen auf den richtigen Weg zu helfen. Seit Urzeiten gehegte Menschheitsträume rückten greifbar nahe, Worte waren plötzlich keine bloßen Wörter mehr, sondern ein fühlbarer, klarer Inhalt. Der Geist ging vor den Menschen her, zeigte und erklärte, lehrte den richtigen Weg zum beständigen Glück. Ein Funken von Liebe, einem jener Wörter die zum Leben erwacht waren, hatte für all das genügt. Er wurde gelebt, gespiegelt, vervielfacht - die Existenz der Liebe war nicht mehr zu leugnen, ein lebendiges Gefühl, ein sichtbarer Wert. Es gab zahlreiche sogenannte "Demonstrationen", durch die die inspirierten Menschen "den Anderen" ihren Willen kundtaten, versuchten, ihnen die Augen zu öffnen und all die Mißstände zu offenbaren. Aber "die Anderen" blieben blind, antworteten mit Gewalt, denn sie kannten keine andere Antwort. Eine finstere Macht war aus ihrem alltäglichen Siechtum aufgeschreckt und holte zum Gegenschlag aus. Sie vernebelte die Herzen der inspirierten Menschen durch falsche Bilder und verleitete sie, den Geist zu verleugnen, der sie erfaßt hatte. Alles, was geschehen war, bekam eine ganz "natürliche Erklärung", das Gefühl wurde blaß und blasser, wurde zur Erinnerung und geriet schließlich ganz in Vergessenheit. Viele, die dem Geist gefolgt waren, ohne ihn zu erkennen, die zu falschen Zielen verleitet worden waren, kamen ums Leben. Die Tore zur eigentlichen Realität hatten sich geschlossen. Einige wenige, die der finsteren Macht entkommen waren, verkrochen sich und wurden unsichtbar. Der gute Geist zog sich von der Erde zurück, denn er hatte kein Vertrauen gefunden und seine Geschenke waren unbeantwortet geblieben. Die finstere Macht war gewarnt und suchte Wege, einem erneuten Vorstoß der positiven Kraft vorzubeugen. So ließ sie einige ungefährliche Relikte des Guten bestehen. Sie schuf neue Parteien, Institutionen und Bewegungen, die scheinbar das Gute repräsentieren sollten und veranlaßte die Großmächte der Erde, die Gedanken des Friedens scheinbar fortzuführen. Es gelang ihr, die Schwankenden und Beunruhigten zu beruhigen und die gewohnte Blindheit wiederherzustellen. Die Kinder der vormals inspirierten Menschen wußten nichts mehr von dem Geist. Die Relikte des Geistes empfanden sie als Lüge und haßten die Menschen, die sie mit ihnen in Verbindung brachten. Ihre Gefühle waren leer und hoffnungslos. Sie verunstalteten sich, kleideten sich schwarz, wurden gewalttätig und menschenverachtend - Kinder des Hasses. Der alten Prophezeiung entsprechend bewirkte der Rückzug des Geistes, der seine Hand schützend über die Menschen gehalten hatte, Elend und Plage. Und doch lebten unter dem Schutz des Geistes die wenigen weiter, die ihm die Treue gehalten hatten. Sie hatten sein Wesen erkannt und folgten ihm weiterhin, so gut sie konnten.